Ein Abend, drei neue Bücher! „Monster wie wir“ erzählt von Vampiren und Geigenspiel, von Braunkohleabbau und Sit-ups, vom Monströsen der Gewalt und vom lauten Schweigen, das die Opfer umgibt. „Wense“ zeichnet ein Porträt des gleichnamigen Universalgelehrten als Momentaufnahme – ein staunender Wanderer, der sich leidenschaftlich in Gedanken und Büchern verliert. „Im Glasberg“ werden neben Grimms Märchen und anderen Lektüren die eigene Herkunft, Landschaften und Städte zum Quell poetischer Verwandlungen.
Ulrike Almut Sandig: Monster wie wir
Moderation: Annette Pehnt
Ruth spielt Geige und hat Angst vor Vampiren. Sie wächst in einem Pfarrhaus in der ostdeutschen Pampa auf. Aber Gott ist kein Parteisekretär, um dessen Schutz man buhlen könnte. Ihr bester Freund Viktor hat einen Mondglobus und Falten im Gesicht. Er fürchtet sich nur vor seinem Scheißschwager. Aber dann findet er diesen Schalter in seinem Kopf, um rein gar nichts zu empfinden. Und wird selbst zum Fürchten.
Was Gewalt bedeutet, wissen sie beide. Hier, wo der Braunkohleabbau ganze Dörfer und Wälder verschlingt, hilft man sich am besten selbst. Viktor macht jeden Tag Sit-ups und rasiert sich eine Glatze. Dass einer wie er als Au-Pair nach Frankreich geht, versteht niemand. Doch für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Und Ruth? Die flüchtet sich ins Geigenspiel. Wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander?
„Monster wie wir“ (Schöffling, 2020) ist der erste Roman der gefeierten Dichterin und Klangkünstlerin Ulrike Almut Sandig. In funkelnder Prosa voll harter Beats schildert sie ihre Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung.
Christian Schulteisz: Wense
Moderation: Beatrice Faßbender
Nach dem Tod Hans Jürgen von der Wenses (1894–1966) hat man angeblich 60.000 Nachlassseiten, 258 Messtischblätter, 40 Kompositionen, 3000 Fotos und tausende Briefe gefunden. Der hochbegabte Autodidakt übersetzte und dichtete, komponierte und forschte, beschäftigte sich mit Astrologie, Meteorologie und Kartografie. Vor allem aber wanderte er. Mehr als 40.000 Kilometer soll er zurückgelegt haben. Diesen ekstatisch Umherstreifenden stellt Christian Schulteisz ins Zentrum seines Romandebüts „Wense“ (Berenberg, 2020). Angelehnt an die historische Person erzählt er von einem allwissenden Taugenichts, der plötzlich taugen soll.
1943 muss Wense in Göttingen Kriegsersatzdienst leisten – in den Physikalischen Werkstätten. Schulteisz skizziert Wenses wachsende Freundschaft zu einem französischen Physiker, das enge Verhältnis zur Mutter, Hunger und Krankheit, Krieg und Wahnsinn. Vor allem aber beschreibt er ein Staunen, das sich leidenschaftlich in Gedanken und Büchern verliert, eine Wahrnehmung, in der alles mit allem verbunden ist. Deutsche Landschaften sind Wense ebenso heilig wie die Sagen und Mythen der Cherusker, Maya oder Osmanen, wie Sterne, Steine, Tiere – eben alles andere, was es zu entdecken gilt. Und so wandelt sich auch die Lektüre dieses schmalen Romans zur staunenden Beobachtung.
Nadja Küchenmeister: Im Glasberg
Moderation: Thomas Geiger
Mit „Im Glasberg“ (Schöffling, 2020) legt die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin Nadja Küchenmeister ihren dritten Gedichtband vor. Den verwunschenen Titel leiht sie sich bei den Gebrüdern Grimm: Sieben Raben, heißt es dort, wohnen im Glasberg, am Ende der Welt. Sieben Knaben waren sie gewesen, doch ein Fluch hat sie in krächzende Trauertiere verwandelt. Ihre kleine Schwester zieht aus, sie zu retten: „die sonne ist der mond / mein auge ein stern unter sternen / mein koffer ein stühlchen / mein herzstück ein ring / ich bin ohne furcht“.
Nicht nur literarische Traditionen wie das Märchen, auch der Alltag, die eigene Herkunft, Landschaften, Städte, Lektüren und Briefe werden Nadja Küchenmeister zum Quell poetischer Verwandlungen. Ihre Texte halten unseren Blick auf die Welt beweglich, verdichten und dehnen die Zeit, öffnen Türen, wo wir keine vermuten, „während / das herz wie eine biene schwirrt / honig sammelt im mittelfellraum“.
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Foto: © Michael Aust / Villa Concordia, Ramune Pigagaite, Dirk Skiba